Lindemann & Stroganow

Hans-Jörg Hennecke und Kersten Flenter

Video: Christine Kraatz-Risch - Musik: Wohnraumhelden

Untergangsstimmung

von Hans-Jörg Hennecke

Wenn eine 20.000 Jahre währende Aera zu Ende geht, wird selbst Lindemann nachdenklich. Er hat die Höhlen von Lascaux in der französischen Dordogne gesehen und ihre wunderbare Wandbemalung bestaunt. Jagdszenen aus jener Zeit, gemalt von einem unbekannten Künstler, der für sein Werk von der Jagd freigestellt war und dennoch seinen Anteil an der Beute erhielt. Die erste Form öffentlicher Kunstförderung, resümiert Lindemann mit Genugtuung. Das war eine Kultur die wusste, dass der Mensch nicht allein vom Mammutbraten leben kann. Und heute? Mammutbraten ist nicht mehr im Angebot und wenn es nach einigen Politikern geht, wird der öffentlich geförderte kulturelle Rahmen des Lebens ebenso aussterben. Büchereien und Museen stehen zur Disposition und die Volkshochschule ist auch viel zu teuer, heißt es. Im übrigen sei Kultur der einzige Bereich, wo die gebeutelten und hochverschuldeten Kommunen noch sparen könnten. Denn alle anderen Aufgaben sind Pflicht, während Kultur freiwillig bezahlt wird. Die Menschen genießen Kultur, also ist Kultur ein Genussmittel. So wie Kaffee, Alkohol und Zigaretten. Nachbar Stokelfranz erinnert an die gigantischen Schulden des Staates. „Wir stehen mit 1,8 Billionen Euro in der Kreide, können Sie sich den Batzen Geld vorstellen?“ Lindemann kann nicht. Er malt die Ziffer aufs Papier. 1.800 Milliarden. In Ziffern: 1.800.000.000.000. Wie soll das jemals zurückgezahlt werden. „Geht gar nicht“, mault Stokelfranz. „Da kann die Konjunktur brummen wie sie will. So viel Geld kann man nur drucken und das heißt Inflation. Der einzige Ausweg für die Regierung. Und das vertreten Sie als Beamter, Lindemann.“ Lindemann bekommt eine Gänsehaut angesichts der Finanzlage seines Arbeitgebers. Ob da dereinst überhaupt noch seine Pension möglich ist? Wird die mit wertlosem Monopoly-Geld bezahlt? Wo bleibt da die besondere Treuepflicht des Staates als Gegenwert für die besondere Treuepflicht des Beamten? Oder hat der nur eine Treuepflicht gegenüber den Banken, für die der Staat schon mal mit 500 Milliarden winkte, die er gar nicht besaß? Im Mittelpunkt der Mensch, sagen die Politiker. Im Mittelpunkt die Banker – wäre das nicht treffender? Stokelfranz bemerkt die Traurigkeit seines Staatsdieners und weiß zu trösten. „Vor der Inflation fressen uns die größeren Probleme. Unsichere Atomkraftwerke und Zwischenlager, Erderwärmung, Umweltzerstörung und leergefischte ölverseuchte Meere. Das geht sowieso nicht mehr lange gut. Und man muss doch nicht mit voller Brieftasche in den Weltuntergang gehen.“
Lindemann sammelt Kalendersprüche. Einen für jede Gelegenheit. Zielsicher fischt er sich einen für das Ende der Kultur vom längst verstorbenen Schriftsteller Karl Kraus heraus. "Wenn die Sonne der Kultur untergeht, werden die Schatten der Zwerge länger."

Die vier Säulen des Schwachsinns

von Kersten Flenter

Als Kioskbetreiber ist Stroganow ein Mann der kleinen Margen. Die Gewinnspanne beim Verkauf eines Salinos reicht selten, um die monatlichen Unterhaltskosten für physische und kulturelle Notwendigkeiten aufzubringen, ganz zu schweigen von unternehmerischen Rücklagen für unvorhergesehene Ereignisse, zum Beispiel eine halbjährliche Baustelle vor dem Laden, oder wenn die Warenbeschaffung plötzlich eine ganz neue Logistik erfordert, weil irgendein grober Architekt aus dem Stadtteil eine Insel machen möchte. Nun, Stroganows Kiosk steht glücklicherweise in Linden, nicht in Seelze (ein kleines Städtchen am westlichen Stadtrand, das seit Ausposaunen des Projekts „Leinebogen“ einen gewissen Popularitätsschub erhielt, nachdem es zuletzt in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts durch seine Teilnahme bei „Spiel ohne Grenzen“ in der Presse erwähnt wurde). Und da Linden bekanntlich schon immer eine Insel der Glückseligen ist, würde niemand auch nur daran denken, daraus einen Wasserpark zu machen. Die Idee einer riesigen Seenlandschaft im Norden Hannovers inklusive Überflutung geschützter Fauna und Flora, die Zerstörung von Natur zu Gunsten von Spiel, Spaß und Spannung, der allüberallnervenden Eventisierung des Lebens, ist zwar so realitätsfremd wie indiskutabel, so perfide wie zynisch, dennoch lernen wir auch aus dieser Hirndiarrhöe und rufen ihrem Erfinder, dem Isernhagener (pfui, wer wohnt da schon? Klaus Meine vielleicht, oder Heinz Rudolf Kunze) Architekten Peter Grobe zu: Dumm gelaufen!
Der ganze Plan sollte nämlich noch gar nicht an die Öffentlichkeit, denn natürlich weiß auch Grobe, der nach eigenen Worten „Planung aus Spaß und Freude“ betreibt, dass man, um Großes zu schaffen, eine kritische Öffentlichkeit und den Willen der Bevölkerung solange aus einem Projekt heraushalten muss, bis unumkehrbare Fakten geschaffen sind. Das Bahnhofs-Projekt „Stuttgart 21“ zeigt es: Am Anfang steht eine krude Idee. Die verkauft man mit ein paar verschleierten oder zurückgehaltenen Informationen den politischen Entscheidern, wenn man nicht selbst schon dazugehört. Ist das Projekt dann juristisch abgesegnet, schwemmen nach und nach die wahren Inhalte an die Oberfläche, und über diese Tatsachen darf das dumme Volk sich dann ein bisschen ärgern, und wenn es gar zu arg wird, kommen die Knüppel. Das sind die vier Säulen des Schwachsinns. Es reicht nicht, irrsinnig zu sein. Man braucht auch noch Schergen, die den Irrsinn als Vernunft verkaufen. Das nennt man dann Politik, oder Marketing. Die Unterschiede sind marginal. Gegen die Realität, oder gegen Gesetze, ist für Menschen wie Grobe oder den baden-württembergischen Ministerpräsidenten Mappus nur das, wofür man nicht die richtige Verkaufssprache findet.
Was das alles mit Stroganow und seinen Salino-Margen zu tun hat? Merke: ein Schokoladenkaro oder ein halber Lindener sind etwas Handfestes. Das kann der Mensch sich vorstellen, sogar essen oder austrinken. Eine Summe von 10 Milliarden Euro dagegen ist für einen nicht geringen Teil der Bevölkerung gar nicht erst vorstellbar, es sei denn, man hält Dagobert Ducks Geldspeicher für das reale Abbild einer deutschen Bank. Folglich lässt sich mit solchen Summen viel sorgloser hantieren. Zwei Milliarden Kosten mehr oder weniger, ups, da haben wir wohl in der Rechnung eine kleine Unbekannte übersehen. Ach, da gibt es ein Naturschutzgebiet? Da kann man doch sicher eine Ausnahme finden … Aber sicher doch. Genauso, wie ich für mein geduldiges Wesen auch mehr und mehr Ausnahmen finde.

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