Lindemann & Stroganow

Hans-Jörg Hennecke und Kersten Flenter

Video: Christine Kraatz-Risch - Musik: Wohnraumhelden

Graue Feiertage

von Hans-Jörg Hennecke

„November“, stöhnt Lindemann bei einem Blick auf den Kalender. Der Monat wimmelt von Feiertagen, wo man nicht gern mitfeiern möchte. Da ist Volkstrauertag und Totensonntag, eingeklemmt dazwischen Buß- und Bettag, der seiner angenehmen Seite als arbeitsfreier Tag längst beraubt wurde. „Diese Feiertage feiert irgend jemand auf unsere Kosten“, meldet sich Nachbar Stokelfranz zu Wort. Nur Oma Kasten aus dem ersten Stock scheint nicht unzufrieden, bereitet sie doch ihre traditionelle Rundreise über die hannoverschen Friedhöfe vor, um längst verstorbene Verwandte und Freunde zu besuchen. Dass die meisten inzwischen „unbekannt verzogen“ sind, weil Gräber schon nach zwanzig Jahren platt gemacht werden, hat sie wieder einmal verdrängt.
„Das einzige was passt, ist das Wetter“, knurrt Lindemann. Diesig, grau in grau, regnerisch und kalt, dabei windig und bodenglatt durch feuchtes Laub. Die Natur, die im Mai den Menschen so einschmeichelnd umgarnt, zeigt ihm nun, dass man für jede Wohltat bezahlen muss.
Die Regierenden haben sich angepasst, bedrängen den Menschen mit unterirdischen Bahnhöfen und wollen Atomkraftwerke am liebsten so lange laufen lassen, wie deren Brennstoff strahlt. Nichts wissen sie über Wünsche und Hoffnungen ihrer Untertanen. Hätten die Stuttgarter das dortige Fussball-Stadion wegen unterirdischer Kickerei ihres VfB schon zu Beginn der Saison unter die Erde verlegt, hätte es keinen Hahn zum Krähen gebracht. Aber die verstehen nur noch Bahnhof. Und dass der Islam in Deutschland angekommen ist. Müssen deshalb die Bahnhöfe unter die Erde? Was ist mit der christlichen Leitkultur? Stokelfranz meint, wer keine Bratwurst isst und jeden Doppelkorn verschmäht, soll sich mit einem Kopftuch ausweisen. Frauen wie Männer, denn hierzulande gilt Gleichberechtigung. Sagt Stokelfranz. Lindemann ist wie immer zwiegespalten, hält die christliche Leitkultur in Sachen Fleischverzehr allerdings für neoliberal. Er hat das Unglaubliche entdeckt: Die Bibel wirbt für Gammelfleisch!
„Alles was auf dem Fleischmarkt verkauft wird, das esst, und forscht nicht nach, auf dass ihr das Gewissen nicht beschwert.“ (1. Korintherbrief, 10,25). Vielleicht ist es das. was jeden Muslim stutzig macht und vor der Bratwurstbude ausbremst. Lindemann hat als persönliche Alternative auch schon an vegetarische Kost gedacht, wenn die nicht so fleischlos wäre. Also geht er von den Realitäten aus und wird die Feste feiern, wie die Schweine fallen. Er hat eine Einladung zur Wurstplatte, eine zum Eisbein und eine zum Braunkohl. Sein letzter Kommentar: „Und segne, was Du uns bescheret hast!“

Grundwerte im November

von Kersten Flenter

Es ist November, die Karnevalszeit beginnt, und das ist ebenso wie wenn man am Sonntagabend versehentlich die Talk Show von Anne Will anschaltet ein Anlass, mal wieder nach dem Sinn des Lebens zu fragen.
„Ich habe jetzt angefangen, die Bibel zu lesen“, sagt Stroganow. „Aha“, sage ich. „Die Kanzlerin redet jetzt wieder mal von unseren deutschen Grundwerten, da muss ich doch erstmal wissen, was unsere Grundwerte sind.“ „Und was macht das mit dir?“, rutscht mir eine böse Floskel raus. „Grausam, grausam“, seufzt Stroganow, „ich sag dir, die Verfasser des 1. Buch Mose wären allein schon im Grundkurs für kreatives Schreiben durchgefallen. Ganz abgesehen vom Inhalt – schon ganz am Anfang sagt Gott seinem Menschlein, er solle nicht zwischen Gut und Böse unterscheiden dürfen.“ „Ich finde das ziemlich weitsichtig“, überlege ich, „denn so einfach ist die Welt ja nun wahrlich nicht – gut und böse, schwarz und weiß … wir wissen doch, dass das Leben zu 90% Prozent aus Schattierungen von Schwachsinn besteht, der Rest ist Apfelschorle.“ „Aus dir spricht blanker Argwohn“, deutet mich Stroganow, „finde dich gefälligst damit ab, dass das Christentum heute genauso zu Linden gehört wie der Islam.“ „Ich finde mich mit überhaupt nichts ab“, protestiere ich, „außer mit deinem mangelhaften Sortiment an Kaltgetränken.“ „Was gibt’s daran auszusetzen? Ich hab Bier.“ „Wie dem auch sei“, beschwichtige ich, „religiöse Aspekte bringen uns bei der Lösung unserer Probleme nicht weiter. Oder soll Merkel wie George W. Bush ihre Entscheidungen als plötzliche Eingabe des Heiligen Geistes im Gebet finden?“ „Nun, ganz schlecht wäre es nicht, wenn mal ein bisschen Geist in ihre Überlegungen Einzug erhielte.“ „Übertreib es nicht – immerhin ist unsere Kanzlerin Akademikerin“, sage ich. Stroganow bringt es auf den Punkt: „Da siehst du mal, wohin zuviel Bildung führen kann in diesem Land: materieller Wohlstand und geistige Armut!“ „Auch bei Pfarrerstöchtern!“, sage ich. „Wie du immer nur die Kurve zum Thema zurück bekommst“, wundert sich Stroganow nicht ohne Anerkennung.
Mittelschmidt kommt an den Kiosk und bestellt einen Happen. „Worüber reden wir heute?“, will er wissen. „Wie immer“, sagt Stroganow. „Habt ihr gehört? Familien mit einem Jahreseinkommen von über 250.000 Euro wird künftig, genau wie den Hartz IVEmpfängern, das Elterngeld gestrichen“, berichtet Mittelschmidt. „Ja, die soziale Gerechtigkeit in diesem Land wird langsam unerträglich“, findet Stroganow.

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