Lindemann & Stroganow

Keine Märchen mehr / Mittelschmidt in geheimer Mission

Gelesen von Hans-Jörg Hennecke und Kersten Flenter

Video: Christine Kraatz-Risch - Musik: Wohnraumhelden

Keine Märchen mehr

Von Hans-Jörg Hennecke

Generationen lang wurde der heimische Nachwuchs mit Märchen aus der Sammlung der Gebrüder Grimm sozialisiert. Dafür waren Oma und Opa zuständig. Das hat allen so gut getan, dass sie die Nichtexistenz von Fernsehen und Internet gar nicht bemerkten. So wuchsen brave Menschen wie Lindemann heran, die auf die Obrigkeit hörten und Drogen nur konsumierten, wenn sie durch eine Steuerbanderole des Staates geadelt waren.
Schluss aus, alles vorbei. Märchen werden nicht mehr erzählt und der Nachwuchs muss sich mit Ballerspielen der Play-Station begnügen. Und warum? Weil die Alten heute zur Hälfte dement und zur anderen Hälfte Alt-68er sind, die nichts Hergebrachtes achten. Was dabei rauskommt, kann man zuweilen hören, wenn Opa dem Enkel die dramatische Geschichte vom Rotkäppchen erzählt.

Es war einmal ein kleines Mädchen, das hieß Rotkehlchen.
Nein, Rotkäppchen.
Ach so, Rotkäppchen. Eines Tages sagte die Mutter: Hör zu Rotbanner...
Nicht doch, Rotkäppchen. Aber ja, Rotkäppchen. Geh zu Tante Erika und bring ihr diese Mao-Bibel ...
Falsch! Geh zur Großmutter und bring ihr diesen Kuchen.
Schon gut. Das Mädchen ging in den Wald und begegnete einem Kapitalisten ...
Was für ein Humbug! Sie begegnete dem Wolf und nicht einem Kapitalisten.
Und der Wolf fragte: Wie hältst du es mit der Revolution?
Stimmt ja gar nicht. Der Wolf fragte: Wo gehst du hin?
Richtig. Es antwortete: Ich gehe zu Aldi, Eier für die Demo kaufen.
Unsinn! Ich gehe zur kranken Großmutter, bin jedoch vom Weg abgekommen.
Ach so. Und der Hund sagte ...
Was für ein Hund? Es war doch der Wolf.
Natürlich. Und der Wolf sagte: Nimm die Straßenbahn 9, steige Lindener Markt aus und biege rechts ab. Du wirst einen Kiosk sehen. Kauf dir keine Bild-Zeitung, sondern nimm die 70 Cent für Kaugummi.
Opa, du kannst keine Märchen erzählen, du wirfst alles durcheinander. Die 70 Cent für Kaugummi gibst du mir aber trotzdem.
Nun ja, du siehst, wie lehrreich Märchen sind.
Ja,ja, das nächste kostet 1,40.
Und Opa wusste, dass die Mächtigen mit dieser Jugend rechnen müssen.

Mittelschmidt in geheimer Mission

von Kersten Flenter

Mittelschmidt hatte sein „Morgen bin ich schön“-Gesicht angeschminkt, als er uns am Kiosk traf. Stroganow sah mich seufzend an. Es war Winter, da konnte einem gute Laune schon mal gehörig auf die Eier gehen. Schere schneidet Papier. Brunnen schärft die Schere. „Häh?“, wunderte ich mich. „Du hast verloren“, sagte Stroganow, „sprich du ihn an.“ „Was ist Sache, Mittelschmidt?“, fragte ich widerwillig. „Neues Praktikum“, freute sich Mittelschmidt. „Ach guck!“, echoten wir, „und was ist es diesmal?“ „Geheimer Job bei der Bundesregierung. Ich soll den Verfassungsschutz beobachten. Niveauvolle Tätigkeit, hieß es in der Stellenbeschreibung, Kenntnisse im Umgang mit Schere und Prittstift werden erwartet.“ „So niveauwie sinnvoll“, stellte ich fest, „du sollst also, das, was eh in der Presse steht, dokumentieren, um die Presse zu besänftigen?“ „Nun, nicht jeder verfügt über soviel Knowhow und technische Spionagemittel wie Facebook.“ „Lass mal“, warf Stroganow ein, „man darf denen doch wirklich mal ein bisschen auf die Pelle rücken. Schließlich ärgern die uns auch dauernd.“ „Und sind schuld, dass es die NPD noch gibt“, pflichtete Mittelschmidt ihm bei. Ich nahm einen Schluck Friedrich-Pils und schaute beiläufig zu dem Fotografen auf der anderen Straßenseite herüber. Stroganow stieß weiter ins Horn: „Überlegt mal - wenn es den Verfassungsschutz nicht gäbe, hätte die NPD fast kein Personal mehr und könnte den Laden schließen.“ „Eure Naivität in Ehren“, sagte ich, „aber ich glaube, ich muss euch da mal die Nase in den Sachverhalt pieken. Umgekehrt wird vielleicht auch ein Schuh draus - wenn es den Verfassungsschutz nicht gäbe, hätte das Gros der Nazis keinen Job mehr. Ich sage: die NPD hat den Verfassungsschutz unterwandert, nicht umgekehrt. Freundet euch mal eine Minute mit dem Gedanken an und ihr habt eine schöne Verschwörungstheorie für die Geschehnisse der letzten Zeit.“ „Das klingt spannend!“, staunte Mittelschmidt und freute sich umso mehr auf sein neues Praktikum.
Stroganow winkte jetzt dem Fotografen, der sich gerade unauffällig die Klettverschlüsse seiner Turnschuhe band. Der errötete leicht und kam zu uns herüber, als fühlte er sich bei etwas ertappt. „Freut mich, ich bin dein neuer Kollege“, sagte Mittelschmidt, „jedenfalls so ungefähr, übergeordnete Behörde und so.“ „Aha“, meinte der Mittfünfziger, tippte sich an den Hut und rückte die Sonnenbrille zurecht. „Schönes Wetter heute“, schlug Stroganow vor. „Nä, viel zu neblig“, sagte der Trenchcoatträger, „ich brauch mehr sonnige Stimmung für meinen neuen Kiosk-Fotoband.“ „Falsche Jahreszeit, sage ich doch“, stimmte ich ein. „Falsches Leben“, sagte Stroganow, und danach sagte man natürlich gar nichts mehr.

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