Lindemann & Stroganow

Passives Abseits / Das Ende von Stroganow, wie wir ihn kennen

Gelesen von Hans-Jörg Hennecke und Kersten Flenter

Video: Christine Kraatz-Risch - Musik: Wohnraumhelden

Passives Abseits

Von Hans-Jörg Hennecke

Die ersten Sonnenstrahlen kitzelten die Nase und Oma Kasten aus dem ersten Stock bewegte sich auf der Treppe abwärts, als sei sie kaum 74. Dabei hatte sie schon ihren 75. gefeiert und manchmal fielen die Schritte schwer. „Raus in die Natur“ hieß dennoch ihre optimistische Parole.
„Gesund ist es“, gab Lindemann zu. „Aber kann der Mensch das noch vertragen? Wir brauchen doch Emulgatoren, Stabilisatoren und Haltbarmacher, um Naturprodukte unseren körpereigenen Abwehrstoffen anbieten zu können.“
Stokelfranz hatte grundsätzliche Bedenken. „Der Mensch ist ungerecht zur Natur. Eigentlich ist Natur draußen, manche schleppen sie aber rein und dann sind da riesige Blumenbänke im Wohnzimmer. Hätte die Natur das gewollt, würden Nelken aus der Schrankwand wachsen und Geranien aus der Sessel-Garnitur.“
Lindemann war das egal, für Blumen war seine Freundin Monika zuständig.
„Jetzt trifft ein, was Autofeinde schon vor Jahrzehnten forderten: 5 Mark für den Liter Sprit. Wegen der Natur.“ Überzeugt nickte er zur Bestätigung der eigenen Worte. „Das haben wir damals unter Schwachsinn abgebucht und uns ein Ei drauf gepellt“, gab Stokelfranz reuelos zu. Oma Kasten aus dem ersten Stock nickte. „Ja, damit sollte der kleine Mann geärgert werden, weil der sich endlich auch ein Auto leisten konnte. Mein Mann war seinerzeit stinksauer.“ „Mit Recht“, skandierte Stokelfranz, „nur Autofreiheit erhebt den Menschen über den Affen.“
„Aber Sie fahren doch mit dem Fahrrad“, warf Oma Kasten vorwurfsvoll ein. Stokelfranz war das furchtbar peinlich. „Keine Kohle“, murmelte er. „Dafür jede Menge Hartz 4.“
„Die anderen fahren weiter“, nickte Oma Kasten das scheinbare Problem ab. „Schauen Sie auf die Straße. Da rollt alles was Beine, äh … Räder hat.“
„Rollatoren fahren ohne Sprit“, muffelte Stokelfranz. „Und den anderen scheinen auch 5 Mark nicht zu viel zu sein. Nur Hartz 4 bremst die Autos aus. Ich fühle mich runtergeratet auf das Niveau von …, nun sagen wir mal Ihmezentrum-Kellergeschoß.“ Lindemann erhob Einspruch. „Das Ihmezentrum hat Vergangenheit, Hartz 4 nicht mal Zukunft. Hartz 4 ist so etwas wie passives Abseits.“
Stokelfranz schaute missmutig. „Früher haben sich die Menschen gewehrt. Heute fragen sie nur noch, wie die Privat-Insolvenz funktioniert. Jeder sucht seinen persönlichen Ausweg.“
Lindemann nickte und hatte kein tröstendes Wort. „Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt. Von selbst wird nichts besser. Ich sehe eine lange Dürre kommen.“ Oma Kasten wurde hellwach. „Das ist Frau Markwart aus Nummer 24, die will zu mir.“

Das Ende von Stroganow, wie wir ihn kennen

von Kersten Flenter

Es kommt für uns alle der Moment, wenn wir Farbe bekennen müssen, der größte anzunehmende persönliche Unfall, der Skandal, wenn der Konjunktiv zum Präsens wird und wir in die missliche Lage kommen, keine Ausreden mehr zu haben. Stroganow hat geerbt. Nicht soviel, dass es dem Wochensalär eines FC Bayern-Spielers nahe käme, aber immerhin soviel, dass es auf dem Konto auffällt.
„Das musste verhindern!“, regt Mittelschmidt sich auf, „du musst das erstmal irgendwo parken und dann in Ruhe sehen, wie du das Geld am besten anlegst, sonst nimmt's die Steuer!“ „Du wirst ja ganz grün vor Aufregung“, staunt Stroganow und reicht ihm ein Taschentuch zum Bier. Ich lächele. Der arme Mittelschmidt. Er ist von der Generation, die außer Geldvermehrung keine Lebensinhalte, geschweige denn Werte kennt. „Weißt du denn schon, was du mit dem Geld machen willst?“, frage ich jetzt aber auch. Bevor Stroganow antworten kann, fällt ihm Mittelschmidt in die Rede: „Du musst aufpassen, dass du es richtig anlegst. Und dass die Rendite stimmt! Und wie du Steuern vermeidest!“ „Spinnst du, Mittelschmidt?“ Stroganow hat endlich das Wort: „Wer soll denn meinen Kunden ihr Grundeinkommen zahlen, wenn ich dem Staat keine Steuern zahle? Und was meinst du, wovon die Straßenlaterne bezahlt ist, die so schön meinen Kiosk ausleuchtet, so dass du auch bei pechschwarzer Sommerzeit frühmorgens Flenters Bier holen kannst? Ich sag dir, was ich mit dem Geld mache: Ich zahl die Erbschaftssteuer, und den Rest spende und verschenk ich.“
Mittelschmidt steht jetzt kurz vor dem Herzkasper. „Aber - das macht doch keiner! Überleg mal, was die Reichen alles an der Steuer vorbeischieben! Mindestens 450 Milliarden Euro haben die Deutschen in Steueroasen hinterlegt - wenn die alle ihr Geld dem Staat ...“ „Was'n dann?“, interessiere ich mich. „Na, ich meine ja bloß, wenn die da oben nicht ...“ „... dann müssen eben wir hier unten damit anfangen, oder nicht? Und außerdem - tu doch nicht so, als würden nur die Reichen ihr Geld am Gemeinwohl vorbei schleusen. Das System haben wir doch wohl alle verinnerlicht. Deine und meine Gier und Doofheit halten die Welt am Laufen“, seufze ich, um Stroganow zu unterstützen. Mittelschmidt schmollt.
Und da passiert etwas, das ich nicht erwartet habe - Stroganow ist plötzlich ganz sanft und auf Verständigung aus, statt zu polarisieren. „Es ist doch so“, erklärt Stroganow, „wir müssen uns miteinander versöhnen. Gut, die Kosten, die jeder von uns für Hartz IVEmpfänger berappen muss, liegen bei 422 Euro. Das geparkte Vermögen der Steuerflüchtlinge kostet jeden von uns 6100 Euro. Das klingt auf Anhieb ungerecht, aber wir sollten weder dem Einen noch dem anderen grollen, denn in Wahrheit, so heißt es doch heute so schön im FDP-Jargon, sind sie alle ganz bei uns.“ „Häh?!“, wundert sich Mittelschmidt. „Natürlich. Die Reichen werfen den Armen vor, sie seien nur arbeitsscheu. In Wahrheit wollen sie selber auch nichts für ihr Einkommen tun, sondern ihr Geld für sich arbeiten lassen.“ Jetzt werde ich skeptisch. „Aber Stroganow, das muss dir doch eigentlich gefallen - nicht zu arbeiten.“ „Gefällt mir ja auch.“ „Ja, aber dann behalt doch dein Erbe für dich. Der Staat hat doch gar nichts dafür getan! Das hat doch dein Vater für dich erarbeitet.“ „Na und? Ich habe doch genauso wenig dafür getan wie mein Staat. Der Staat und ich, wir sind da völlig auf Augenhöhe. Aber ich beweis ihm, dass ich besser bin.“ Das ist der Punkt, an dem Mittelschmidt und ich in gleichzeitig Ohnmacht fallen. Ja ist denn schon April?

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