Lindemann & Stroganow

Hans-Jörg Hennecke und Kersten Flenter

Video: Christine Kraatz-Risch - Musik: Wohnraumhelden

Vom Stolz, ein Lindener zu sein

von Hans-Jörg Hennecke

Frohgemut lenkt Lindemann seine Schritte zum Lichtenbergplatz, stellt sich in dessen Mittelpunkt die üppige Kastanie früherer Jahre vor und ehrt Dr. Georg Lichtenberg, den ersten Bürgermeister der Stadt Linden. Es war vor genau 125 Jahren, am 1. April 1885, als das bis dahin größte Dorf Preussens städtische Weihen erhielt. Paukenschlag, Fanfarenklang, ein Blumenmeer mit Chorgesang … Lindemann lebt gern in Linden und nur in Linden. Schließlich weiß er sehr genau, warum. Zwischen Freizeitheim und Kaisergabel trifft er Lindener unterschiedlichster Hautfarben und Nationalitäten. Ob mit Kopftuch oder Turban, mit Ballonmütze oder Sombrero, haarlos oder mit Matte, sie sind Lindener wie du und ich. Während die Menschen in Hannover mürrisch ihrem Tagewerk nachgehen, strotzt der Lindener Mensch vor Optimismus und Freundlichkeit. Das gilt für alle Generationen. So trifft Lindemann gern in der Brauhofstrasse (welch ein herrlicher Straßenname) hellwache Schülerinnen und Schüler der IGS, die ihren Unterricht beendet haben und nach Hause eilen, um ihre Schulaufgaben zu lösen, damit die nächste Pisa-Studie von allen versaut werden kann, aber nicht vom lerneifrigen Nachwuchs in Linden. Hinter der IGS ergötzt sich Lindemann am Lindener Berg (89 Meter über Normal-Null), der höchsten Erhebung in der Jubiläumsstadt. Natürlich haben auch die hannoverschen Nachbarn einen höchsten Berg: die Müll-Deponie in Lahe. Der Vergleich zeigt, um was es geht. Lindens Berg ist Natur pur. Schon im zeitigen Frühjahr, wenn Hannover in grauem Dunst verharrt, blüht auf dem Lindener Berg die herrliche blaue Scilla wie ein natürlicher Teppich. Auf dem Friedhof ist der Pavillon zu einem Anlaufpunkt geworden, weil ihn überzeugte Lindener in ehrenamtlicher Tat zu einem Schmuckstück erster Güte gestalteten. Überhaupt: Vereine und Bürgerinitiativen sind Lindens Rückgrat. Sie haben sich in der Arbeitsgemeinschaft Lindener Vereine gesammelt und lassen an Vielfalt keinerlei Mangel erkennen. Lindemann denkt voller Stolz an den Bund Lindener Tiefseetaucher e.V. oder die Alphornbläser-Vereinigung m.b.H.. Jedenfalls nennt er diese Namen staunenden Hannoveranern, weil die das sowieso nicht überprüfen können. Und dann erst die Kunst, hier offenbart sich der gravierende Unterschied zwischen Linden und Hannover. In der Minister-Stüve-Straße steht der leibhaftige Lindener Butjer, er hockt, schaut selbstbewusst von oben auf seine Umwelt. Geschaffen von Ulrike Enders, die auch für Kunst in Hannover zuständig ist. Vergleichbare Figuren aus ihrem Schaffen findet man zwischen Kröpcke und Karstadt. Eine Frau und einen Mann, verhärmt, geduckt, übergewichtig. Und wo stehen die, fragt Lindemann Stadt-Hannoveraner. Im Regen stehen die! Manchmal rächen sich die Nachbarn von jenseits der Ihme mit einer Gegenfrage, die aus einem einzigen Wort besteht: „Ihmezentrum?“ Lindemann zieht dann die Mundwinkel sinnend nach unten und kontert mit zwei Worten: „Nie gehört.“

Morphium und Mäusespeck

von Kersten Flenter

„Die Geschäfte laufen immer schlechter“, seufzt Stroganow. „Früher war alles besser“, sage ich. „Und das Viertel verwahrlost immer mehr.“ Nun, hier irrt Stroganow. Linden ist schließlich mal wieder ganz vorn dabei. Scheiß auf das Schanzenviertel, scheiß auf den Prenzlauer Berg. Alle reden von Gentrifizierung, wir haben sie. Linden-Mitte ist bereits abgefrühstückt, jetzt geht es um den Kiez. „Aber der Rückzug der Segregation der unbarmherzigen Schwestern aus der Bennostraße ist doch kein Verlust für den Stadtteil“, überlegt Mittelschmidt. Stroganow drückt ihm ein weiteres Stück Mäusespeck in den Mund. Abgelaufenes Haltbarkeitsdatum, gerade recht für Mittelschmidt. „Na, aber was wird denn nun wohl tatsächlich aus dem St. Josefstift?“, will ich wissen. „Kommen Familien rein. Ist doch schön.“ „Und wem verkauf ich dann meine Drogen?“, protestiert Stroganow, „ich hab hier noch zwei LKW-Ladungen Doppelherz und zwei Paletten Morphium im Hinterzimmer.“ „Das Morphium kannste Westerwelle geben“, sage ich. Mittelschmidt hebt den Zeigefinger, untrügliches Zeichen, dass eine neue, verhängnisvolle Geschäftsidee naht. „Und aus dem Doppelherz machen wir’n neuen Designerdrink. Bisschen Red Bull und ne Prise Wodka dazu, gemixt mit Veltins Tollkirsche und einem Spritzer Fritz-Cola – und dann ab damit zur nächsten Linden Love-Party ins FAUST!“ Stroganow kratzt sich am Kinn, untrügliches Zeichen dafür, dass er dies ernsthaft in Erwägung zieht.
„Ihr verkennt mal wieder den Ernst der Lage“, sage ich, „habt doch gelesen, was Plan W vorhat, wenn sie den Zuschlag für das Gelände bekommen, inklusive Pfarrheim und Gemeindehaus: erstmal ne Tiefgarage bauen.“ „Horror!“, fürchtet Stroganow, mit Recht. „Genau. Wollen wir wirklich wissen, was in den Katakomben katholischer Einrichtungen so alles zutage gefördert werden kann?“, stelle ich in den Raum. „Nein, das wollen wir nicht!“, verlautbaren Stroganow und Mittelschmidt unisono.
Wir schweigen einen Moment. Tagesaktuelle Schlagzeilen vermischen sich vor unseren inneren Augen mit Filmszenen aus „Der Name der Rose.“ „Hast du noch so’n Mäusespeck für mich?“, seufzt Mittelschmidt. „Na, warten wir einfach mal ab“, schlägt Stroganow vor. „Nützt ja alles nix, muss ja“, sage ich.

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